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Da draußen im Flug
Heiner Bastian
Heute wäre Beuys 80 Jahre alt geworden. Wie
kein Zweiter hat er die Sprache der modernen Kunst um
eine anthropologische Dimension erweitert
In meiner
Erinnerung an Joseph Beuys stehe ich wieder wie vor mehr
als 30 Jahren bei meiner ersten Begegnung mit seinem Werk
vor den Schaukästen in der Neuen Nationalgalerie Berlin:
unerhörte, nie gesehene Materialien, die armseligen und
beklemmenden Schätze eines Lazarus! Magisch angezogen
bin ich Tag für Tag in diesem Lager umhergegangen: Ich
habe diese Werke damals noch nicht verstanden, und doch
konnte die Kunst nie wieder sein, was sie davor gewesen
war. Später erst, viel später entstand die Empfindung
für die Bedeutung dieser Erscheinungen, die in ihrer
höchsten Form Gleichnisse der menschlichen Existenz sein
konnten.
Alles, was ich seither betrachte, sehe ich mit den Augen,
die einst diese Kunst als extremste aller denkbaren
Gegenentwürfe entdeckten. Die Geheimnisse und die Poesie
der Skulpturen und Zeichnungen des Joseph Beuys stehen
seither wie ein Schutzschild aller Projekte, die die
Zukunft offenhalten, neben dem Ungeheuren und Formlosen
dieser Welt. Die neuen und allerneusten Bilder, das
Aufbegehren der jüngsten Kunst verblasst als Konvention
in den noch immer so erstaunlichen Zeichen und Klängen
der Werke von Joseph Beuys, der für den unfertigen
Menschen das provozierende Grau und das opake Rot als
Regenbogen erfunden hat.
Nicht viel im vergangenen Jahrhundert triumphiert in
ästhetischer Verführung; die Werke von Beuys jedoch,
die für den einsamen musealen Glanz nicht taugten,
muteten uns damals und muten uns heute so viel mehr zu,
als je im Museum ausgestellt war: keine Denkmäler des
Glücks, keine geläuterten Ikonen, sondern Fragmente
einer Sprache, die die Kunst erst zu erreichen suchte,
eine anthropologische Dimension, für die der Künstler
gestritten hat.
"Ich habe mit der Kunst nichts zu tun", hat
Joseph Beuys erklärt, aber zugleich hatte er den
wartenden Fiktionen, auch der Gewalt falscher Utopien
seine eigene Deutung gegeben. Einem toten Hasen hat er
die Bilder erklärt, um sich selbst und anderen
Aufschluss über die bevorstehende Aufklärung zu geben.
Fremden hat er in einer Aktion die Füße gewaschen, aber
dieses Ritual meinte mehr als die Metamorphose der
Sünden. Und in New York antwortete er 1979 auf die Frage
eines jungen Mannes nach seiner Herkunft: "Ja, ich
bin schuldig, ich bin Deutscher." Vor eine seiner
Skulpturen aus schwerem Eisen hatte er übergroß
aufgeschrieben: "Damit ich mich nicht leichtfertig
aus dieser Hölle entferne".
"Joseph Beuys", schrieb einst der Kritiker
Wilfried Wiegand, "hat es sich mit uns schwer
gemacht". Darum konnte die Moral dieses Künstlers
ihre ganze Glaubwürdigkeit nur in den Bildern des
Abgrunds haben, die er als Transzendenz seines
Ausgeliefertseins verstand.
Die wirklichen Ismen des Joseph Beuys sind das Geheimnis
der stummen Beziehungen fliehender Stoffe, die
wiederkehrende Nachtseite der Aufklärung, die Hegel als
Geschichte der Dissonanz, die Faust als Disjunktion
antreibt, die in Adornos Prämisse das nur gebrochene
Glück der Kunst sein kann: die Sprache utopischer
Anlagen. Nichts anderes die Entdeckungen im Zeichnen und
Formen, im Sprechen und Schreiben, in der Polarität von
Gedankenexperimenten. Joseph Beuys nannte diese Ideenwelt
"erweiterter Kunstbegriff", ein unfertiges,
aber projiziertes Gedankengebäude der Thesen und
idealisierten Auklärung, welche eben die künstlerische
Produktion, das Werk und dieses hinaus in die Sphäre der
erkennenden Anschauung führte, hin zu Blochs Wegen der
"Phänomenologie des Veränderns".
Wie denn sonst konnte aus Lebensstationen, aus
autobiografischer Durchdringung, auch Ich-Bewusstsein des
Künstlers, ein Bild entstehen, für das die Wirklichkeit
immer größer war als die Definition schier rationaler
Vernunft? Was war denn die andere Wirklichkeit außer der
entsetzlichen, unnehmenden Banalität des Lebens in der
zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die dennoch die
unaufhaltsame Kraft des Normativen gewann? Auch aus der
Empfindungsfähigkeit für eine alte Welt und ihrer
archaischen Poetik vollzog sich im Denken des Künstlers
jenes Erkennen, das immer deutlicher die akzeptierten,
fatalen Prämissen des so genannten Fortschritts als
"Eindimensionalität des Menschen", offenbarte.
Der Mensch ohne die Sinnlichkeit der Intuition, ohne die
Epiphanie der überdirdischen Schönheit, ohne die Furcht
der fremden Mysterien: die Offenbarung der trivialen
Vollkommenheit einer virtuellen Welt, der bereits selbst
jedes Indiz ihrer Verwirklichung gelingt. Joseph Beuys
ahnte diese fatale Entwicklung. Er sah sie in der
Erschöpfung, im Verlust kultureller Utopien.
Die dringend sich stellenden Fragen aus dem wahrnehmbaren
Zufall der Kultur, fortschreitend in partikuläre Teile,
die bis heute ausgebliebene Zäsur nach dem deutschen
unfassbaren Grauen, Auschwitz, beförderten die
Aufklärungsarbeit und Zivilisationskritik: ablesbar in
Skulptur und Zeichnung, im Nachdenken, dem Zurechtlegen
von notwendigen, moralischen Postulaten. Eine Wahl gab es
für Joseph Beuys nicht. Hatte sich die Kunst ihrer
fremden Gegenwelt Leben als deren dissonante Chiffre
längst eingeschrieben, konnte nur die Umkehr, die Praxis
des Sisyphosdiktums, die der Agonie utopisch-schmerzlich
den Sinn der Kunst ganz anders fassen, gar neu stiften:
Werke, die erst in schwieriger Aneignung ihr Licht
gewinnen - in der Überzeugung Blochs "negativ
fragmentarisch, indem die Welt, die darin wirklich
bedeutete, selber das Unfertigste ist, ein wie oft
Durchkreuztes, wie selten Erfülltes". So ist das
Werk dieses Künstlers noch immer der Versuch, den Sinn
des Fortschrittsbegriffs als den einzigen, den wahren
Reichtum aller Konkretisierungen zu deuten.
In meiner Erinnerung an Joseph Beuys zieht ein Boot in
gleichmäßiger Fahrt im frühen weißen Morgenlicht
Venedigs über das Wasser der Lagune ins Offene: eine
Zwischenwelt aus Stille und Erwartung. Es ist der Morgen
nach dem Aufbau der Skulptur
"Straßenbahnhaltestelle" im Deutschen Pavillon
in den Gärten Venedigs. Dort, neben dem aufgerichteten
Kanonenrohr, einem eisernen Schmerzensmann, liegt die
Schiene, die so schwer zu krümmen war. Jetzt beschreibt
sie einen Bogen, der aus der Erde kommt und dorthin
zurückführt.
Ein imaginärer Kreis schließt sich: Er verbindet Kleve
am Niederrhein mit dem Wasser der Lagune, er verbindet
die Verheißung eines Monuments aus der Kindheit, die
Straßenbahnhaltestelle "Zum eisernen Mann" mit
der schmerzlichen Geburt des Bildhauers, der im
Wahlspruch des Johann Moritz von Nassau-Siegen, Qua Patet
Orbis ("Soweit der Weltenkreis offen steht"),
seine eigentliche Wohnstatt hatte.
Der Autor ist Kurator der Sammlung Erich
Marx, zu der Hauptwerke von Beuys wie die erwähnte
"Straßenbahnhaltestelle" zählen. Zur Zeit
bereitet er eine Andy-Warhol-Retrospektive im Hamburger
Bahnhof vor.
[Der
Tagesspiegel, 11.05.2001]
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